Freitag, 18. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 4): Das Volk darf Gericht halten

(Thüringer Allgemeine vom 17.02.2011)

Von Paul-Josef Raue

Den Indios in Bolivien wird zugebilligt, nach mündlich überlieferten jahrhunderten alten Regeln Recht zu sprechen. Verbannung aus der Dorfgemeinschaft und die Peitsche sind beliebte Strafen für Vergehen.

Es ist keine Freude, in Bolivien Präsident zu sein. Ist das Volk unzufrieden, baut es Barrikaden, macht einen Aufstand und jagt den Präsident davon - wie zuletzt vor acht Jahren. Der Nachfolger gab mehr oder minder freiwillig nach anderthalb Jahren auf.

Er brachte die Campesinos, in die Demokratie. Sie bekamen Stellen im Staatsdienst, konnten mitreden und regieren. Doch so wenig Morales Partei, die Bewegung zum Sozialismus, eine Partei im westlichen Sinne ist, sondern ein Bündnis von Gewerkschaften und sozialen Initiativen, so wenig ist die Demokratie eine im westlichen Sinne.

Sie ist eine direkte Demokratie. Sie nährt sich aus Stimmungs-Meldungen der Initiativen, Nachbarschafts-Komitees und Gewerkschaften.
So sollen Barrikaden vermieden werden, deren Errichtung eine Art Volkssport geworden ist. Was bei dem sportlichen Volk nicht recht gelingen will. So unternimmt Bolivien das wohl spannendste Experiment der Welt: Einen Sozialismus mit demokratischem Antlitz, einen langsamen Abschied vom wirtschaftlichen Liberalismus. Ob dies einem der ärmsten Länder der Welt gelingen kann? Funktioniert Demokratie auch anders als nach westlichen Mustern? Oder schlägt sie, wie meist in Südamerika, in Diktatur um? Auf der Außenlinie des Fußball-Platzes sitzen Hunderte Dorfbewohner auf mitgebrachten Klappstühlen. Sie schauen auf das Wasser des mächtigen Titicacasees, auf die gewaltige Bergkette der Kordilleren am anderen Ufer, auf Kartoffel-Beete und Wasserpflanzen. Auf einem kleinen Erdhügel hockt die andere Hälfte der Versammlung und schaut auf das Dorf Huatajata. Alle tragen Hut, weiße und hellblaue die Frauen, braune und schwarze die Männer. Man könnte es eine Idylle nennen: Die bunten Trachten, das sanft gekräuselte Wasser des Titicacasees. Doch Touristen sind weit und breit nicht zu sehen. Und Idyllen neigen dazu, trügerisch zu sein.

So trifft sich das Dorf und hält Gericht. Am Ufer des Sees debattiert es über das schöne Haus am See, das Victor Hugo Cardenes und seiner Frau gehört. Cardenes war vor 15 Jahren der erste Indio als Vizepräsident Boliviens. Als er vor Kurzem gegen die neue Verfassung und somit gegen die sozialistische Regierung kämpfte, erklärte ihn diese unter der Hand zum Staatsfeind.

Ich habe Angst. Sie haben versucht, meine Familie umzubringen, hatte Cardenes bei einem Besuch in der Regierungsstadt La Paz erzählt, sie haben mein Haus auf dem Land verbrannt. Das Haus steht noch, die Fenster sind eingeworfen, die Räume verwüstet, die Wände beschmiert mit Parolen Eigentum des Volkes! Haus für das dritte Alter darauf anspielend, dass hier die Dorfversammlung ein Altenheim einrichten will. Ein Altenheim? In einer Dorfgemeinschaft, in der die Familie heilig ist und die Alten nie abgeschoben werden?
Die Dorfversammlung auf dem Sportplatz am See beschließt, Cardenes das Haus wegzunehmen. Sie passen nicht zu uns, sagen einige leise. Wir brauchen das Land, sagen die Offiziellen; sie verweisen auf die Zeiten der Großgrundbesitzer und erklären, Cardenes' Haus sei unrechtmäßig in dessen Besitz gelangt. Mit dem Haus will das Dorf gleich die dazugehörigen Ländereien konfiszieren.

Im Fall von Cardenes hat die Sportplatz-Versammlung nicht das letzte Wort, der Fall kommt wohl vor ein Gericht mit wahrscheinlich unabhängigen Richtern. Sie werden über die Enteignung beschließen müssen.
Wenn sich das Dorf trifft und über einen Bürger richtet, ist der Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft, die Verbannung aus der Heimat, eine beliebte Strafe, eine andere die Peitsche. Der Bürgermeister ist auch der Sheriff des Dorfes. Er trägt um die Schulter eine Peitsche als Zeichen der Macht, geschmückt mit Federn in den Farben Boliviens - und mit einigen weißen Federn, um ein Zeichen zu setzen: Ich bin nicht korrupt!

Wenn einer im Dorf lügt oder stiehlt, schlägt der Bürgermeister mit seiner Peitsche zu, spontan drei Hiebe in die Beine. Während er davon spricht, demonstriert er, wie die Peitsche singend schwingt: Er nimmt sie von der Schulter und schlägt in die Luft mit der Miene des Mächtigen, der Autorität besitzt - mit einem leichten Lächeln der Genugtuung. Er ist sichtbar stolz.
Jedes Dorf hat seine eigene Versammlung, sein eigenes Recht. Der Gouverneur in Sucre, der Hauptstadt, spricht von Hühnerdieben, denen es an den Kragen gehe, nur Hühnerdiebe, nichts Schwerwiegendes. So lösen wir kleine Probleme, schnell, billig. Wir brauchen keine teuren Prozesse. Ob es auch die Todesstrafe gebe?, fragen wir den Gouverneur. Nein, sagt er. Die Mehrheit in einem Dorf spricht gerechte Strafen aus, etwa eine Geldbuße, um die Schule ausbauen zu können, oder Arbeit für die Gemeinschaft.

Doch in einer kleinen Stadt Boliviens haben die Bewohner mit Taschendieben kurzen Prozess gemacht. Sie schleppten die Diebe auf den Sportplatz und zündeten sie an. Zwei starben. Einen ordentlichen Prozess gab es nicht. Indigene Justiz, rechtfertigte sich die Stadt der Mörder. Das war's.

In den Bergen nahe der chilenischen Grenze, wo man gerne Autos schmuggelt, hielten Polizisten einmal zu viel die Hand auf und drohten den Dorfbewohnern mit Anzeigen. Sie wurden kurzerhand getötet. Einen Prozess gab es nie. Geurteilt wird in den Dörfern manchmal schnell, auf jeden Fall nach anderen Moralvorstellungen als denen, die man den allgemeinen Menschenrechten zugrunde legt. Am Titicacasee hat einer schon schlechte Karten in der Justiz des Dorfes, der nicht aus der Gegend kommt, alleine lebt und nicht allzu fleißig ist. Denn, so sagt der mächtige Sekretär der Gewerkschaft, wer etwas gelten will, muss gesund sein, fleißig, verheiratet und einer von uns. Und korrupt darf er auch nicht sein.

Boliviens Präsident ist ein Indio, aber er hat keine Ehefrau und zwei uneheliche Kinder. Die Autoritäten vom Titicacasee zucken kurz mit den Augen, als die Sprache auf den Präsidenten kommt. Der Mann mit der Peitsche sagt: In der großen Stadt kann einer schon Single sein, und fügt drohend hinzu: Aber er muss gut sein. Wenn er nicht gut ist, werden wir ihn rausschmeißen, ob er Präsident ist oder nicht. Evo, unser Präsident, weiß eben nicht, was es heißt, Kinder zu haben und eine Frau.

In La Paz sieht man nahe des Markts Puppen an einigen Laternen, sie haben einen Strick um den Hals und einen gesenkten Kopf. So geht es Dieben, steht auf einem Schild, das ihnen um den Hals gehängt wurde. In der Indio-Stadt Alto auf der kalten Hochebene nahe La Paz hängen die Puppen zu Dutzenden. Sie hängen seit Monaten. Keiner nimmt sie ab.

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Projekt America Latina 200 an die Befreiung Südamerikas von der Kolonialherrschaft erinnert.

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