Yom HaShoah – für zwei Minuten erstarrt das ganze Land |
Yom Ha Shoah ist ein säkularer staatlicher Feiertag, aber - wie die religiösen Feiertage - beginnt er bereits am Vorabend. Denn für Juden beginnt und endet ein Tag mit dem Sonnenuntergang, wenn die ersten drei Sterne am Himmel erscheinen. Rechtzeitig verlassen wir also das gastfreundliche Haus von Anita Haviv, um nach Massuah am Kibbutz Tel Jizhak zu fahren, wo eine Gedenkfeier stattfinden wird. Massuah (was in Hebräisch „Flamme“ bedeutet) ist eine Holocaust-Gedenkstätte, die ein Institut für Holocauststudien, eine Bildungsstätte sowie ein Museum beherbergt. Das Ziel der Einrichtung ist es, die Erinnerung und den Diskurs über die Bedeutung des Holocaust für die israelische Gesellschaft und Kultur aufrecht zu halten. Seit Beginn seines Bestehens beteiligten sich ehrenamtlich auch viele Überlebende an der Arbeit des Instituts, was hier sehr geschätzt wird. Es sind meistens die, die mit der Kinder- und Jugend-Alija nach dem Krieg nach Israel kamen. „Alija“ ist ein hebräisches Wort und bedeutet „Aufstieg“. Es bezeichnet die Rückkehr von Juden in das Gelobte Land. Man immigriert nicht hierher, man steigt auf. Die symbolische Bedeutung dieses Wortes entgeht uns nicht. In einem geräumigen Amphitheater neben dem Museum werden Veranstaltungen abgehalten. Dort müssen wir hin.
Massuah Museum - Alija - der Aufstieg |
Führung mit Dr. Eli Bar Chen |
Nach dem Einbruch der Dunkelheit beginnt die Gedenkfeier. Das Amphitheater ist überfüllt. Hauptsächlich junge Menschen, vor allem Soldatinnen und Soldaten unterschiedlicher Formationen, man erkennt auch zahlreiche Schulklassen. Es werden Reden gehalten, ein Gebet für die Verstorbenen gesprochen, Musik gespielt und Gedichte vorgelesen. Jedes Jahr wird das Leitthema gewechselt. Dieses mal sind die Feierlichkeiten Kindern und Jugendlichen in der Shoah gewidmet. Einer der Redner ist der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte. Das soll die Bedeutung der Armee für den israelischen Staat und seiner Gesellschaft unterstreichen. Dann werden von Überlebenden die sechs Flammen entzündet: jede für eine Million. Die siebte Flamme, die von dem Politiker Natan Scharanski anschließend gezündet wird, soll die Zukunft des Staates Israel symbolisieren. Für mich eine klare Botschaft: wir sind da, wir sind stark und wir lassen uns nicht unterkriegen. Nie wieder. Uns entgeht zwar die verbale Tragweite, da wir die Sprache nicht verstehen, aber die ganze Symbolik der Veranstaltung ist doch sehr bewegend. Nicht zuletzt wegen unserer eigenen kollektiven Erinnerung.
Gedenkfeier im Amphitheater neben dem Museum |
Am Tag des Yom HaShoah fangen wir mit Anitas Hilfe an, den kulturellen „Code der Israelis“ zu knacken. Das brauchen wir, um besser zu verstehen, was in diesem Schmelztiegel vor sich geht. Zwar sagt man, dass man nach Israel mit tausend Fragen kommt und mit fünftausend nach Hause zurückkehrt, doch mit jedem Vortrag und jedem Gespräch bewegen wir uns nach vorne.
Dieses Mal geht es um die jüdische Identität. Juden machen 75% der ganzen Bevölkerung aus. Dazu kommen 20 % Muslime und 5% andere Konfessionen. Einer der wichtigsten Faktoren der jüdischen Identität ist die Religion. Außer den säkularen gibt es reformierte, orthodoxe und ultraorthodoxe Juden. Anita erklärt uns die Unterschiede und zeigt, was wir anhand der Kopfbedeckungen erraten können.
Anita selbst ist eine nicht religiöse Jüdin, die mit 18 Jahren nach Israel kam. Da sie am Anfang große Probleme hatte, sich in Hebräisch auszudrücken, studierte sie englische und französische Literatur. Da ihre Eltern Überlebende der Shoah sind, hat es natürlich ihr Leben sehr geprägt, sagt sie.
Mit Anitas Hilfe den den kulturellen „Code der Israelis“ knacken |
Dann stellt sie uns zwei junge Frauen vor: Talia Hollaender und Rachel Melisse. Beide sind Jüdinnen und Israelinnen, aber ich habe den Eindruck, dass das vielleicht das Einzige ist, was die beiden verbindet. Die in einer Siedlung in den Autonomiegebieten lebende 22 jährige Talia ist sehr religiös und schon verheiratet – daher ihre Kopfbedeckung, die sie selbst „die Schmatte“ nennt. Die Studentin der Kommunikationswissenschaften hat eine religiöse Schule absolviert, in der der Holocaust kein großes Thema war. Doch die Shoah ist in ihrer Familie präsent – ihr Großvater ist ein Überlebender.
Talia Hollaender |
Rachel Melisse |
Später am Nachmittag treffen wir Lizzie Doron und Etgar Keret. Beide sind bekannte Schriftsteller, beide gehören der sogenannten zweiten Generation an, wie die Kinder der Überlebenden des Holocaust bezeichnet werden. Doch auch sie unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. Während die Kindheit von Lizzie vom Trauma ihrer alleinstehenden Mutter gekennzeichnet war, ist Etgar in einer harmonischen und von Optimismus geprägten Familie aufgewachsen. Das spiegelt sich auch in ihrem Schreiben wider: während Lizzie sich mit der Familiengeschichte in ihren Büchern auseinandersetzt, schreibt Etgar, der als ein enfant terrible der israelischen Literatur gilt, unkonventionelle kurze Erzählungen, in der sich Tragik mit Komik auf eine wunderbare Weise vermischen.
Etgar Keret |
Lizzie Doron |
Ich glaube, alle haben diesen ersten Einblick in das Leben und in die sehr ungezwungen erzählten persönlichen Geschichten sehr geschätzt. Ich auf jeden Fall tat es.
Fotos: Anna Maria Adamczyk, Elke Meyer-Hoos, Katarzyna Weintraub