Samstag, 22. Januar 2011

Der Tag danach: Caipirinha mit Franz Beckenbauer

Der Caipirinha an der Copacabana in Rio kostet fünf Reais, etwa 2,20 Euro, kommt in dünnwandigen Plastikbechern und ziemlich kräftig daher. Franz Beckenbauer bestellt direkt zwei, so mache er das immer, die Becher seien ja so klein, außerdem sei es ja auch abends noch angenehm warm in Rio, da tue eine kleine Erfrischung schon gut. Beckenbauer wäre natürlich nicht Beckenbauer, wenn er das nicht in seinem Giesinger Bayerisch sagen würde, garniert mit ein paar typisch kaiserlichen Meckerlauten, die mir wohl zeigen sollen, dass es dem Kaiser gut geht.

Der Kaiser ist oft in Rio, dann wohnt er immer im Copacabana Palace, so jedenfalls stelle ich mir das vor, als ich an der Copacabana sitze und tatsächlich zwei Becher Caipirinha in den Händen halte und die Studienreise langsam, wie man sagt, ausklingen lasse. Ausschleichen wäre wahrscheinlich passender, denn hinter uns liegen zwei durchaus zehrende Wochen. Aber darüber habe ich ja hier schon ausreichend lamentiert. Meine Gedanken kreisen also zuverlässig um den Giesinger Fußballgott. Ob er wohl vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 mehrmals nach Brasilien geflogen ist, um hier gut Wetter zu machen für das Turnier in Alemanha?

Erster Schluck von Caipi Nummer zwei.

Ich sehe den Kaiser mit seinem Amtskollegen Pelé ein paar Bälle jonglieren, im Maracanã-Stadion, dann fahren sie in dicken Limousinen durch die dreckigen Straßen und irgendeiner aus dem Tross sagt etwas wie „Bis 2014 ist das hier alles picobello“ und der Kaiser nickt dazu höflich, aber auch etwas skeptisch. Derweil raubt eine Bande Halbstarker mit automatischen Waffen an einer Ampel ein Auto aus, der Kaiser beobachtet das durch das abgedunkelte Fenster und die Ampel schaltet auf Grün.

Ich bestelle einen dritten Caipirinha. 

Der Kaiser, unten rechts, daneben der Autor. Daneben: der Strand von Copacabana.


Wir sind zum Ende unserer Reise also nun in Rio de Janeiro angelangt, einer Stadt mit Fluss im Namen ohne Fluss in der Stadt. Da hatten sich die Entdecker damals einfach vertan, so wie Columbus. Unsere Reisegruppe kann sich gar nicht vertun – der Strand von Copacabana liegt nur eine Minute von unserem Hotel entfernt. Die gute Laune ist also gesichert, der Lagerkoller, so kurz vor dem Ende nicht unwahrscheinlich, noch einmal abgewendet. Derart motiviert lassen wir uns die Stadt zeigen, fahren mit einer uralten Straßenbahn und lassen uns schließlich von einer etwas sehr schneidigen Dame aus dem Marketingbereich des brasilianischen Ölkonzerns Petrobras das Betriebsklima erläutern. Es ist, mit Verlaub, gruselig, was man uns auftischte. Auf die Frage hin, wie Petrobras mit den Risiken bei den Ölbohrungen vor der Küste umgehe, antwortet man uns schlicht: „Accidents can happen.“ 

Am nächsten Tag fahren wir nach Petropolis, um den Befreiungstheologen Leonardo Boff zu treffen. Rund um Petropolis waren wenige Tage vor unserem Besuch mehrere hundert Menschen bei gewaltigen Erdrutschen ums Leben gekommen. Accidents can eben happen, wenn man Raubbau an der Natur treibt.

Zwischendurch wieder Gedanken an Beckenbauer. Wie der das wohl fände?

Leonardo Boff ist ein Segen. Wahrscheinlich bin ich noch zu jung, um die gesamte Tragweite zu verstehen, aber das ist ja der Vorteil von Gruppenreisen: Andere übernehmen, wenn man es selber nicht kann, das Moderieren, das Reden und auch das Erklären. Nach dem Gespräch mit Boff weiß ich daher nicht nur bestens über die Bewegung der Befreiungstheologie Bescheid, ich weiß nun auch, wem aus der Gruppe es ähnlich geht. Das Treffen in der schönen Stadt Petropolis ist, da sind sich alle einig, das Highlight des Brasilien-Teils der Reise. Nicht nur wegen Boff, sondern auch wegen des Chors des Zentrums für Menschenrechte, das Boff leitet. Der Chor singt für uns und das in einer Klarheit und Eindringlichkeit, die einigen Reisenden noch Stunden später leicht wässrige Augen macht. 

Hallte nach: Leonardo Boff


Nicht alle Gesprächspartner in Brasilien hatten diesen Nachhall in der Gruppe. Das mag einerseits an den Strapazen der Reise nach Bolivien gelegen haben, andererseits an etwas, das man nach so kurzer Zeit im Land bestenfalls  erahnen kann: einer Art Stolz auf das bisher Erreichte und Erbaute und Erdachte, dem eine europäisch krittelnde Reflektion gelinde gesagt etwas im Wege steht. In anderen Worten: Mein, ausschließlich mein Eindruck bei den Gesprächen in Brasilien, sei es mit dem Vertreter der Tourismusministeriums oder Petrobras, Umweltschützern oder Waldpolizisten war, dass man außerordentlich bemüht war, für uns deutsche Journalisten das Bild eines starken und immer stärker werdenden, bunten, zu vielem fähigen Brasiliens zu zeichnen, dessen Rahmen die Olympischen Spiele 2016 und die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 sind. (In ein ähnliches Horn stießen übrigens auch deutsche Wirtschaftsvertreter, naturgemäß. Ihr Rahmen aber sind die Bilanzen.)

Natürlich: Negatives hatte auch in diesen Erzählungen seinen Platz – nicht selten aber nur als unvollständige Fußnote, der im Dickicht des Gesamtwerks keine besondere Achtung geschenkt wurde. Wer legt schon gerne seine Schwächen offen? Besonders krass fiel die Detailvergesslichkeit bei allen mit Bildung und vor allem: mit Naturschutz zusammenhängenden Fragen auf. So war es immens wichtig, dass wir mitnahmen, dass mehr als 90 Prozent der in Brasilien fahrenden Autos einen sogenannten Flexmotor haben, also sowohl mit Ethanol als auch mit Benzin als auch mit einer Mischung aus beiden betrieben werden können. Als für unsere Ohren weniger wichtig erachtete man zum Beispiel, dass dank großzügiger Kredite seit einigen Jahren immer mehr Leute in den Genuss eines eigenen PKWs kommen und so die durch die besseren Motoren eingesparten Emissionen wieder nach oben treiben. Ganz zu schweigen von den Problemen, die sich aus den vielen Zuckerrohr- und Palmölplantagen ergeben. Bekannte, die zum Beispiel China oder Rumänien gut kennen, haben ganz ähnliche Dinge von dort erzählt. Ich bin ratlos, wie man sich in der Sache verhalten soll.

Und was sagt der Kaiser dazu?

Er reicht mir einen vierten Caipirinha, das helfe für den Moment. Ich verordne mir fünf weitere Wochen in Brasilien Reisen mit dem Rucksack, um einen Eindruck des Landes auf Normalnull zu bekommen. Ohne Gruppe, ohne offizielle Erklärungen, dafür mit öffentlichem Bus und Rumpelschiff und Pick-Up. Doch das, was ich in der Zeit sehe, vergrößert die Ratlosigkeit nur noch.

Dominik Schottner (bedankt sich für das gelegentliche Gelesenwerden)

Nachtrag: Guter Beitrag von Julio Segador über den Biosprit-Boom in Brasilien bei DRadio Wissen.

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